Rausch, mehr als in den letzten zweihundert Jahren der Fall, wieder ein Medium von
Selbstdarstellung wird. Die Techniken der Disziplinierung, die die Moderne zur Bändigung
unvermittelter Triebkräfte einsetzte, sind nicht völlig verschwunden, aber sie werden zunehmend
ersetzt durch eine Kontrollstrategie, die nicht mehr auf Einbindung und korrigierende Kontrolle der
Individuen setzt – das tat der klassische Sozialstaat, der auf Krankheit und Abweichung mit
Therapie und Resozialisierung reagierte. Heute dagegen gibt es lediglich eine konstatierende
Kontrolle, aus der dann exkludierende Konsequenzen gezogen werden – die Parole lautet, tue was
Du willst, aber trage gegebenenfalls die Konsequenzen von Randseitigkeit und Ausschluss. Diese
Kontrollgesellschaft etabliert durchaus neue Freiheitsspielräume, die es vorher nicht gab, und sie
verzichtet weitgehend auf jene normierenden Grenzen, die auch den Rausch eingebunden und
diszipliniert haben. Genau dies lässt sich als eine Farce der Wiederholung auffassen: bildet das
Mittelalter die Zeit vor der Individualisierung der Individuen und ihrer disziplinär gesteuerten
Einbindung, eine Zeit der rauschhaften Ungebundenheit vor dem Hintergrund einer ständischen
Ordnung, so bildet die späte Moderne die Zeit, in der sich solche rauschhafte Ungebundenheit
wieder etablieren kann – als ein Mittel der Individuierung, Selbststilisierung und Herstellung von
Differenz. Disziplinierung als dominantes Ziel der Kontrolle dagegen schwindet, und ständische
Ordnung wird durch räumliche Trennungen und Eingrenzungen simuliert. Es ist eine durch und
durch kontrollierte Freiheit, die damit etabliert wird – eine Lockerung gegenüber der Ordnung der
Disziplinen und eine Ordnung, die auf die Selbstverantwortung der Individuen setzt, nötigenfalls
allerdings jederzeit auch das alte Instrumentarium der Disziplinierung wieder einsetzt, eine
Gesellschaft, in der Freiheiten und Zwänge auf neuartige Weise ineinander verwoben sind. Das
setzt uns alle den Anstrengungen der Freiheit aus, die wir selbst zu gestalten haben, und dem
Zwang der Optionen, unter denen wir zu wählen haben. Das ist für manche eine ersehnte
Befreiung aus disziplinarischen Einengungen und Vorschriften, für manche eine Überforderung,
aber mit diesen Bedingungen haben wir umzugehen, auch im Rausch.
Als letzte Bemerkung möchte ich Ihnen ein mittelalterliches Sprichwort nahelegen, das vielleicht
ganz hilfreich ist, um die Balance des Rausches zu wahren. Wenn Sie nachher Ihren Wein trinken,
draußen oder zu Hause, dann denken Sie dran:
Der trinkt sicher, der sein Bett nahe hat.
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