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Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert erreichen diese Entwicklungen dann eine neue
Qualität. Drogenpolitisch ist es ein bedeutsamer Aspekt der Disziplinierung, die jetzt
stattfindet, dass man erstmals einen Begriff und eine Anschauung von 'Sucht' entwickelt.
Sucht lässt sich ja nicht ausschließlich als eine physiologisch zwangsläufig ablaufende Entwicklung
betrachten, sondern der Begriff umgreift komplexe Verhaltens- und Reaktionsweisen, und die ver-
laufen ja keineswegs unabhängig von der Umgebung. In diesem Sinne ist Sucht eine soziale
Konstruktion, und erst wenn eine Gesellschaft über diese Konstruktion verfügt, 'erkennt' sie den
Süchtigen und reagiert auf moralische, punitive, therapeutische Weise oder in spezifischen
Mischungen). Von der 'Entdeckung der Sucht' zu sprechen, bedeutet also nicht, daß es vorher
keine süchtigen Verhaltensweisen gegeben hätte; aber es fehlte der Begriff und damit auch der
Modus der gesellschaftlichen Reaktion. Mit dem Begriff aber glaubt man zu wissen, worum es sich
handelt, und das hat seine Ausläufer bis in die Gegenwart hinein: wenn lange Zeit das Ziel einer
Therapie nur als völlige Abstinenz denkbar war, dann bündelt das gesellschaftliche Vorstellungen
über den Mechanismus des Süchtig-Seins, und es betont die Bedeutung von Selbstkontrolle, die
dem Süchtigen so offensichtlich abgeht. Das beginnt 1819, als mit der Arbeit von Carl von Brühl-
Cramer endgültig der Begriff 'Trunksucht' im Diskurs der Zeit erscheint, und die moderne, heute
noch gültige Terminologie setzt sich, wenn auch gegen Widerstände, durch. Das lässt sich
begreifen als eine Modernisierung des Instrumentariums der Disziplinierung; das Konstrukt 'Sucht'
repräsentiert Verhaltensweisen, die die funktionalen Notwendigkeiten der Fabrikarbeit ebenso stö-
ren wie den bürgerlichen Imperativ der Bereicherung, der das 19. Jahrhundert bestimmt und sich
heute ja eher noch verstärkt hat. Diese funktionalen Notwendigkeiten laufen auf Rationalität und
Berechenbarkeit hinaus, und persönliche Autonomie wird jetzt zum allgemeinsten
Verhaltenserfordernis, das die Gesellschaft ihren Mitgliedern abverlangt. Sucht als die
exzessive Abweichung hiervon erscheint dann nur als Krankheit verständlich.
Heutzutage hat sich lediglich die Terminologie verändert, und aus Trunksucht ist Alkoholismus
geworden. Im Alltag allerdings – also in der konformen Lebenswelt der Allermeisten – ist weithin
eine lustvoll selbstbestimmte Rauschhaftigkeit dominant, denn Intensität von Erfahrung wie aber
auch deren Beherrschbarkeit sind die vorrangigen Qualitäten in der heutigen Erlebnisgesellschaft.
Beide Qualitäten konstituieren die spezifisch moderne Ambivalenz gegenüber dem Rausch, in
dem temporäre Erlösung von Alltagszwängen ebenso gesucht wird wie ein permanentes Versagen
vor diesen Alltagszwängen vermieden werden soll. In dieser höchsten Autonomie, die immer
wieder neu und vor allem selbst gestaltet werden muss, verbirgt sich aber auch die höchste
Gefährdung, dies um so mehr, als Flexibilität und Eigenverantwortung die Insignien des Lebens in
spätmodernen Zeiten geworden sind.
Diese Entwicklungen stehen komplementär zu den Veränderungen des dominanten Persön-
lichkeitsbildes. Das hat sich weit entfernt vom Bild des abhängig Beschäftigten, der acht Stunden
lang seine Arbeit abliefert und dabei tut, was man ihm sagt; vielmehr stellen heute
Eigenverantwortung und Flexibilität wesentliche Verhaltensanforderungen dar, und damit
verbindet sich geradezu als eine notwendige Tugend das eigene Unternehmertum. Die Einzelnen
unternehmen sich selbst, sie unternehmen sich als ein einzelnes Selbst, und was früher in
Prozessen der Disziplinierung erzwungen wurde – in einem Prozess der Außensteuerung, auf den
die Individuen zu reagieren hatten – das wird nun eine aktiv erbrachte Leistung unternehmerischer
Lebensführung. Das ist der Stil von Lebensführung des 'flexiblen Menschen'. Dieser flexible
Mensch ist der an die Bedingungen eines flexiblen Kapitalismus unter neoliberalem Regime
angepasste Mensch: risikobereit, zur autonomen Eigensteuerung fähig, sein Leben einem Kosten-
Nutzen-Kalkül unterwerfend, sich unternehmerisch inszenierend, mobil hinsichtlich seiner
Arbeitsprojekte, Wohnorte und Bindungen. Das Selbst wird damit zum Standort der gesellschaft-
lichen Konkurrenzen, die die Individuen als Einzelne untereinander ausfechten.
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