This page contains a Flash digital edition of a book.
Also der Räusche und veränderten Zustände des Bewusstseins gibt es viele, doch die
Versuche, solche Zustände rechtlich, politisch und sozial zu regulieren, machen sich vor
allem und verständlicherweise immer wieder an Drogen fest. Von denen will ich denn auch
im folgenden vor allem sprechen, und unter Drogen verstehe ich alle Stoffe, die geeignet sind,
ein verändertes – und vielleicht auch nur ganz leicht verschobenes – Erleben der Innenwelt oder
der Außenwelt zu bewirken: ob ein Stoff zu einer bestimmten Zeit legal oder illegal ist, ist dabei
ganz unwichtig, und nahezu alle Stoffe sind zu der einen oder anderen Zeit wenn nicht verboten, so
doch hoch umstritten gewesen, das gilt für Tabak ebenso wie für Kaffee, der uns heute so harmlos
erscheint, von Alkohol, Haschisch und den sogenannten harten Drogen wie Heroin und Morphium
ganz zu schweigen. Alle diese Stoffe bewirken veränderte Zustände des Bewusstseins und der
Wahrnehmung, und auf welche Weise eine Kultur diese Veränderungen bewertet, das hängt
wesentlich von zwei Faktoren ab, nämlich einmal davon, welche Bedeutung ein individuelles
Ichgefühl in der kulturellen Praxis und Denkweise hat, und dann von dem Wert, den eine Kultur der
persönlichen Selbstkontrolle beimisst: Ich wie Selbstkontrolle können in den 'Künstlichen
Paradiesen' der Drogenerfahrung, von denen Baudelaire gesprochen hat, in ihren Grenzen
gefährdet oder gar aufgehoben werden, denn das ist ja das Kennzeichen des Rausches, dass er
einen Bewusstseinszustand schafft, der über das Ich hinausgeht, und gerade dies bedeutet
Lockung und Bedrohung gleichermaßen. Ausgeprägte Ich-Kulturen, zu denen die unsere zählt,
stehen vielen Formen der Drogenerfahrung deswegen eher ablehnend gegenüber, beurteilen
solche Erfahrungen mit großer Ambivalenz und verlangen den Individuen noch im Umgang mit
dem Rausch Aufrechterhaltung der Selbstkontrolle ab. Das ist die kulturelle Folie, vor der in dieser
Gesellschaft jeglicher Konsum von Drogen stattfindet.
Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund einen Blick auf etwas weniger nüchterne Zeiten werfen,
auf die Zeitspanne vom 9. bis zum 14./15. Jahrhundert – also jene Zeit, die wir heute 'Mittelalter'
nennen. Die deutschen Kaiser dieser Zeit mussten vor ihrer Krönung schwören, sie wollten 'mit
Gottes Hilfe' nüchtern bleiben, das klingt ja etwas merkwürdig für unsere Ohren, und trotz aller
Alkoholprobleme bei Politikern, von denen man immer wieder liest, kann man sich einen solchen
Schwur heute nur schwer vorstellen. Sie sehen daran einen wesentlichen Unterschied des
damaligen Rauschverhaltens zu unseren heutigen Zeiten: es war damals eher ungezügelt und
wenig reguliert. Das hängt eng mit der sozialen und kulturellen Lebenswelt der damaligen Zeit
zusammen: die Menschen damals sind in ihrer Individuierung als Einzelperson weitaus weniger
ausgeprägt als heute: man empfand sich nicht in unserem Sinne als Individuum, sondern als
Teil einer Gemeinschaft, sei sie dörflich oder zünftlerisch geprägt, und das gesellschaftliche Ziel ist
nicht die Stilisierung eigener Individualität durch Mode, Design, Erfolg, Prominenz und ähnliches,
sondern das Eingebunden-Sein in die Gemeinschaft des Standes und eines selbstverständlichen
Christentums. Dies alles geht einher mit vergleichsweise ungezügelt ausgetragenen
Leidenschaften und einem ungehemmteren Ausdruck von Gefühlen. Eine solche
Mentalitätsstruktur steht nun notwendig in einem engen Zusammenhang mit ökonomischen und
sozialpsychologischen Gegebenheiten; die mittelalterliche Gesellschaft ist eine ständisch
geschlossene Gesellschaft, und die Menschen sind weitaus weniger als heute in arbeitsteiligem
Verbund aufeinander angewiesen, sondern leben in lokaler Integration. Weitaus weniger als wir
moderne Menschen sind die Menschen damals genötigt, ihre Affekte zu zügeln und im Wort-
sinne nüchterne Selbstkontrolle zu üben. Ihnen ist insgesamt eine nur geringe Affektkontrolle
auferlegt, und dies bewirkt eine ebenfalls geringe Rauschkontrolle. Und weil dies so ist, besitzt der
Rausch eine Qualität des Selbstverständlichen und wird weder zeitlich noch sozial ausgegrenzt. Er
ist eingebettet in eine Alltagswirklichkeit, die sich nicht abgrenzend gegenüber allen Rauschzu-
ständen definiert, den Rausch nicht als eine unwirkliche Qualität des Erlebens betrachtet und ihn
nicht als Trübung eines überlegenen Wachbewußtseins begreift.
51
Page 1  |  Page 2  |  Page 3  |  Page 4  |  Page 5  |  Page 6  |  Page 7  |  Page 8  |  Page 9  |  Page 10  |  Page 11  |  Page 12  |  Page 13  |  Page 14  |  Page 15  |  Page 16  |  Page 17  |  Page 18  |  Page 19  |  Page 20  |  Page 21  |  Page 22  |  Page 23  |  Page 24  |  Page 25  |  Page 26  |  Page 27  |  Page 28  |  Page 29  |  Page 30  |  Page 31  |  Page 32  |  Page 33  |  Page 34  |  Page 35  |  Page 36  |  Page 37  |  Page 38  |  Page 39  |  Page 40  |  Page 41  |  Page 42  |  Page 43  |  Page 44  |  Page 45  |  Page 46  |  Page 47  |  Page 48  |  Page 49  |  Page 50  |  Page 51  |  Page 52  |  Page 53  |  Page 54  |  Page 55  |  Page 56  |  Page 57  |  Page 58  |  Page 59  |  Page 60  |  Page 61  |  Page 62  |  Page 63  |  Page 64  |  Page 65  |  Page 66  |  Page 67  |  Page 68  |  Page 69  |  Page 70  |  Page 71  |  Page 72  |  Page 73  |  Page 74  |  Page 75  |  Page 76  |  Page 77  |  Page 78  |  Page 79  |  Page 80  |  Page 81  |  Page 82  |  Page 83
Produced with Yudu - www.yudu.com