Diese Selbstverständlichkeiten des Rausches werden mit dem Beginn der Neuzeit
zunehmend in Frage gestellt. Das Neue fällt nicht vom Himmel, sondern hat sich schon lange
angekündigt – nicht zuletzt die Beichte mit ihrem Zwang zur Selbstreflektion bewirkt schon im
hohen Mittelalter erste Ansätze von Individualisierung. Wenn aber Albrecht Dürer als erster
Künstler seine persönliche Signatur auf seine Bilder setzt, dann ist das ein beredtes Zeichen für
den Bruch mit der mittelalterlichen Konzeption, die weniger Individuen als eingebundene Mitglieder
eines Standes kennt. Mit der Epochenschwelle des 14. und 15. Jahrhunderts bestimmen nun
verstärkt Geldwirtschaft, eine zunehmende Rationalisierung der Lebensführung, eine planende
Berechnung und Kontrolle der eigenen emotionalen Impulse das Leben, und es bildet sich der
individualistische Geist des frühkapitalistischen Bürgertums heraus – es beginnt das, was wir heute
Moderne nennen. Und es beginnt ebenfalls die Epoche der ersten Kolonialisierung, es beschleunigt
sich ein Prozeß von Kapitalakkumulation, und naturwissenschaftliche Empirie setzt die Ablösung
einer theologischen universalen Heilsordnung in Gang. Dazu kommt, dass die Reformation dem
Gewissen des Einzelnen einen bisher unbekannten Stellenwert verleiht, und der Protestantismus –
vor allem in seiner calvinistischen Ausprägung – formuliert mit der Konzeption des innerweltlichen
Berufsmenschen eine neuartige Lebenseinstellung, und die Ethik dieser Lebenseinstellung kor-
respondiert mit dem 'Geist des Kapitalismus', wie das Max Weber in seinem berühmten Buch 'Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus' herausgearbeitet hat. Das begründet nun
notwendig eine beherrschte Präsentation des Selbst gegenüber der Welt und einen zunehmenden
Zwang zur Affektkontrolle, und das hat bemerkbare Folgen für den Konsum von Drogen und
seine Bewertung. Der alkoholische Rausch gewinnt nun eine bisher unbekannte Ambivalenz,
und man entdeckt jetzt, frisch importiert aus den neu kolonisierten Gebieten, mit Tee und Kaffee
andere Räusche, die den neuen Anforderungen genügen, nüchterne Räusche, die das
Alltagsbewusstsein nicht trüben, sondern beflügeln.
Diese neuen Räusche verweisen darauf, dass der alkoholische Rausch jetzt nicht mehr die
Gewinnung einer dionysischen, sondern die misslungene Beherrschung einer als rational
konzipierten Welt bedeutet: er wird verstanden als Störung des innerweltlichen
Berufsmenschentums in einer 'nüchterner' werdenden Zeit, in der die 'Entzauberung der Welt' –
noch einmal ein Ausdruck von Max Weber – beginnt. Jetzt bestimmt der Kampf "Wider den
Sauffteufel" (so der Titel einer Schrift von 1607) die dominante Einstellung. Solche Veränderungen
von Bewertung und Verhaltensweisen spiegeln sich in den zeitgenössischen Diskursen: Sebastian
Brants „Narrenschiff“ von 1594 droht dem „wynschluch“ an, dass er „Billich in kunfftig armut fellt“,
und das ist eine bezeichnend säkulare Sanktion. Aufschlussreich ist auch die Gründung zahlreicher
Mäßigkeitsvereine am Beginn des Jahrhunderts, die ein mäßiges Trinkverhalten zu fördern
suchen, und mehrere Reichstage verbieten zwischen 1495 und 1518 das Zutrinken als eine
besonders verbreitete Trinksitte der Zeit. Sie sehen, die Bemühungen der Politik sind damals
genauso rührend hilflos wie heute.
Die Theorie zum Prozess der Zivilisation, wie sie Norbert Elias geprägt hat, geht davon aus, dass
sich Fremdzwänge, die von außen auferlegt werden, nun zunehmend in Selbstzwänge verwan-
deln: Selbstkontrolle wird jetzt zu einer Tugend, und Affekte müssen gezügelt werden. Unter
diesen Bedingungen gewinnt der Rausch aber auch eine Entlastungsfunktion, die er vorher
nicht hatte. Er erlaubt auf Zeit ein sonst tabuiertes Affektverhalten, lockert die damit verbundenen
Ängste und hebt temporär die Zucht von Selbstkontrolle auf. Pointiert könnte man deswegen
sagen, dass man im Mittelalter trinkt, weil die Affekte ungehemmt sind, während man nun im
Gegenteil eben deswegen trinkt, um sie zu enthemmen. Das bedeutet eine Veränderung der
Wahrnehmung und Bewertung von Rausch: in Ansätzen findet eine De-Legitimierung des
Rausches statt, und das steht in einem engen Zusammenhang mit den wachsenden
Anforderungen an Selbstkontrolle, an einen Zwang zum Selbstzwang und dem reformatorischen
Anspruch asketischer Nüchternheit. Sich zu berauschen erscheint jetzt in zunehmenden Maße als
eine vom Individuum autonom zu verantwortende Handlung, und die Ambivalenz des Rausches
gestaltet sich zu einer individuellen Leistung.
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