This page contains a Flash digital edition of a book.
Gewalt darstellt, und damit spielen manche von ihnen vielleicht nicht reflektiert und bewusst, aber
doch offensiv. In der Ökonomie der Aufmerksamkeit, wie sie unser Leben bestimmt, kann
Gewalt immer damit rechnen, wahrgenommen zu werden, und nicht zuletzt um ein
Wahrgenommen-Werden dürfte es vielen Jugendlichen gehen, wahrscheinlich um so mehr,
je ungewisser die Perspektiven sind, denen sie sich gegenüber sehen.
Es kommt als ein wichtiger motivationaler Faktor hinzu die Veränderung der Geschlechterrollen,
wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, und diese Veränderungen stellen junge
Männer vor erheblich größere Herausforderungen als junge Frauen. Denn junge Frauen haben
Optionen hinzugewonnen, vor allem haben sie mit der Auflösung der unseligen Trias von Kindern,
Küche und Kirche berufliche Perspektiven hinzugewonnen: das hat zwar nach wie vor – trotz einer
Bundeskanzlerin – große Einschränkungen, denn die Zahl von Universitäts-Professorinnen ist nach
wie vor beschämend gering, und in den DAX-Vorständen sind Frauen ebenfalls nach wie vor ganz
exotisch, aber dennoch hat sich einiges getan, was vor dreißig Jahren schwer vorstellbar war. An
junge Männer hingegen richten sich neuartige Anforderungen, Stichwort 'neuer Mann' und 'neue
Väterlichkeit', und diese Optionen, so sinnvoll und wünschenswert sie sind, werden
gesellschaftlich keineswegs als so attraktiv bewertet wie beruflicher Erfolg. So befinden sich
Männer überhaupt – nicht unbedingt die reflektierten unter ihnen natürlich, aber dennoch viele eher
unbewusst – in einem Abwehrkampf zum Machterhalt, und für junge Männer heißt das, dass die
traditionalen Rollen entwertet worden sind und die neuen Rollen noch nicht so etabliert, dass man
sich mit Selbstverständlichkeit in sie einfügen könnte. Auch in diesem Kontext sollte man
jugendlichen Alkoholkonsum sehen.
Wenn die politische und die mediale Botschaft so oft lautet, dass der Konsum von heute
wichtiger sei als die Lebenschancen von morgen, dann lässt sich das jugendliche
Komatrinken, binge drinking, durchaus als eine Form der praktischen Umsetzung dieser
Maxime verstehen – ein wenig vergröbert und verzerrt allerdings. Es hat also eine wichtige
symbolhafte Bedeutung, die durch situative Steuerungen nicht erfasst wird und auch gar nicht
erfasst werden soll, denn solche Formen der Steuerung suchen lediglich bestimmte soziale
Erscheinungsformen – nicht zuletzt Armut und Betrunken-Sein – unsichtbar zu machen und
Verhalten zu managen, nicht aber soziale Veränderungen zu bewirken. Sie geben damit jegliche
Verantwortung an die Individuen zurück, die sich selbst zu steuern und also auch ihre Formen von
Rausch und Nüchternheit mit sich selbst auszumachen haben.
Heutige Jugendliche treffen dabei auf eine Welt, die eher das exzessive Arbeiten als das
exzessive Trinken prämiiert, wenngleich sie gelegentlich auch dieses für ganz angebracht hält.
Mehr denn je gilt: wer den Rausch sucht, der wandelt auf einem schmalen Grat, und sowohl
diejenigen, die ihn ganz vermeiden, die Abstinenten, wie diejenigen, die von diesem Grat ab-
stürzen, die Süchtigen, fallen der sozialen Verachtung anheim. Beide verfehlen das
vornehmste Ziel des neuzeitlichen Menschen: die Aufrechterhaltung von Selbstkontrolle
und gleichzeitig die Fähigkeit, diese Kontrolle unter bestimmten sozialen Bedingungen
kontrolliert außer Kraft zu setzen. Unter solchen Bedingungen unterliegt der Rausch nicht
nur der eigenen Verantwortung, sondern verlangt geradezu Rausch-Kompetenz.
Lassen Sie mich zum Schluss den historischen Bogen schließen und noch einmal einen Blick
zurück ins Mittelalter Europas werfen. Damals war das Trinken von Alkohol wenig restriktiv,
normativ ungehemmt und weitgehend ohne die Notwendigkeiten einer verinnerlichten Selbstkon-
trolle. Es kann natürlich nicht davon die Rede sein, nun brächen wieder mittelalterliche Verhältnisse
an; ein Element der Wiederholung aber liegt darin, dass tatsächlich einige Restriktionen des
Rausches, die die Moderne aus funktionalen Gründen etabliert hat, nun aufgehoben sind und der
56
Page 1  |  Page 2  |  Page 3  |  Page 4  |  Page 5  |  Page 6  |  Page 7  |  Page 8  |  Page 9  |  Page 10  |  Page 11  |  Page 12  |  Page 13  |  Page 14  |  Page 15  |  Page 16  |  Page 17  |  Page 18  |  Page 19  |  Page 20  |  Page 21  |  Page 22  |  Page 23  |  Page 24  |  Page 25  |  Page 26  |  Page 27  |  Page 28  |  Page 29  |  Page 30  |  Page 31  |  Page 32  |  Page 33  |  Page 34  |  Page 35  |  Page 36  |  Page 37  |  Page 38  |  Page 39  |  Page 40  |  Page 41  |  Page 42  |  Page 43  |  Page 44  |  Page 45  |  Page 46  |  Page 47  |  Page 48  |  Page 49  |  Page 50  |  Page 51  |  Page 52  |  Page 53  |  Page 54  |  Page 55  |  Page 56  |  Page 57  |  Page 58  |  Page 59  |  Page 60  |  Page 61  |  Page 62  |  Page 63  |  Page 64  |  Page 65  |  Page 66  |  Page 67  |  Page 68  |  Page 69  |  Page 70  |  Page 71  |  Page 72  |  Page 73  |  Page 74  |  Page 75  |  Page 76  |  Page 77  |  Page 78  |  Page 79  |  Page 80  |  Page 81  |  Page 82  |  Page 83
Produced with Yudu - www.yudu.com