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REISEN: Marco „Polo“ Rüeggs Briefe aus Thailand, Teil 2
von Marco Rüegg
Haschasche & Sargholz
Ashbury-Height San Francisco. Wo 1967 die Bars qualmten wie mit
Afghan vollgestopfte Vulkane, wartet heute ein in Batik gehaltener
Disneyland-Abklatsch auf die Touristenhorden. Wie gut, dass es da noch
Pai gibt, ein Sixties-Refugium im Nordwesten Thailands. Und wie noch
viel besser, dass wir dort waren und feststellten: Auch Urvölker singen
Karaoke.
Alanus de Insulis lügt. Es gibt zumindest diesen einen Weg, der führt nicht
nach Rom, sondern nach Pai. Hat zwar gleichviele Buchstaben, aber eine
Tankfüllung mehr Charme und riecht erst noch besser. Besagte Tankfüllung
trägt uns langsame 98 Kilometer nördlich von Chiang Mai, durch Goliath-
Bananenstauden und blutrote Dschungelerde. Und in Pai tuckert der Motor
im Rhythmus der Beat-Generation. Reggaemuffins führen Konfettisack-
Klamotten spazieren und schlitzäugige Peter Fondas beknattern die
Szenerie, als sei das Leben ein einziger Easy Ride und der Benzinpreis so
tief wie das schauspielerische Niveau thailändischer Seifenopern (was
genauer betrachtet gar nicht so verkehrt ist). Abgesehen von einheimischen
Movie-Touristen, Offtrack-Backpackern und verirrten Opium-Kurieren aus
dem burmesischen Shan State verirrt sich kaum jemand in das ansatzweise
verkiffte Nest am Mae Nam Pai. Auch niemand, der auf die Idee gekommen
wäre, ein Rauchverbot oder ein Rauschmittelgesetz einzuführen. Wenn Big
Mama Sonne in ihr sattgrünes Urwaldbett schlüpft, kriechen sie aus ihren
Löchern, Beebobs und Jerry Garcias, die sich unter der schützenden Hand
Buddhas ihren Freigeist bewahrt haben. Und die schlitzgeäugten Post-
Beatniks und die letzten bleichen Kinder Goas; ihre Gesichter flackern in
den Flammen der Lagerfeuer, Rauch und Rhythmen und ein bisschen
Drogen, frischer Wind trägt die Marihuana-Schwaden nach Burma rüber und
irgendwo in der Ferne heult eine Stratocaster das Solo von „Purple Haze“,
bis der Hahn aus tausend Kehlen schreit, Mama Sonne den Morgennebel
aus dem Talkessel brennt und die Nacht in gleissender Hitze erstickt.
Von Pai führen die Wege natürlich noch weiter. Eine Stunde auf der
Ladefläche eines Pick-Ups, dann zu Fuss fünf Stunden durch Urwald zu den
Hill-Tribes. Kurz vor unserer Ankunft hat eine der Seelen den One-Way-Trip
ins Nirvana angetreten. Während die eine Hälfte der Population die
Hauptstrasse weiterteert, zimmert die andere den Sarg. Ausserdem
schlachten sie eine Sau, hängen die Innereien auf die Bambusveranda und
den Rest verzehren sie gegrillt mit Reiswhiskey während der Totenwache.
Mitten in der Nacht sticht aus den Ritzen einer Bambushütte männlicher
Jammergesang, bohrt sich ins Trommelfell und kriecht als Gänsehaut über
die Unterarme. „Die singen für den Toten?“, flüstern wir unserem Guide zu.
Dieser schaut etwas irritiert zurück. „Natürlich nicht. Sie singen, weil sie
betrunken sind.“
G. G.58 N° 54 N°
MA MA 54 59
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